Der Kriegswinter 1864/65 - Die Lage

 

Wir befinden uns inzwischen im vierten Kriegswinter. Und wie jedesmal um diese Jahreszeit lasse ich einmal den Blick schweifen weg von den großen Persönlichkeiten, Strategien oder Schlachtfeldern, hin zu dem Leben der einzelnen Menschen auf beiden Seiten. Und diese Tradition möchte ich auch diemal fortführen.

Vier Jahre Krieg hatte tiefe Spuren hinterlassen, in allen Bereichen. Der Norden, zunächst von Niederlage zu Niederlage zunehmend demoralisiert, hatte sich langsam aufgerichtet, gleichzeitig mit der in Gang gekommenden Kriegswirtschaft. Spätestens seit Gettysburg letzten Sommer war sowas wie Hoffnung auf ein baldiges und erfolgreiches Ende des Krieges in der Bevölkerung zu spüren.

Lebensmittel und andere Dinge des täglichen Lebens waren im Norden normalerweise problemlos zu bekommen. Die auf Hochtouren laufende Landwirtschaft und Industrie konnte alles liefern. Die Eisenbahnen dampften Tag und Nacht quer durch alle Staaten. Die Farmer im Westen produzieren Ernten im Rekordtempo, und riesige Ranches züchten tausende von Rindern zur Fleischversorgung und Pferde für die Unions-Kavallerie.

Staatsflagge der USA, seit der Aufnahme von West Virginia und Nevada 1863 mit 35 Sternen

Aber militärisch dauerte alles lang und immer länger. Und die Verlustzahlen waren spätestens seit Grant's großer Offensive im Frühsommer gewaltig angestiegen. Kaum eine Familie im Norden, in der das eine oder andere Mitglied schwer beschädigt oder garnicht mehr nach Hause kommen sollte.

Als logische Folge davon gewannen die Kriegsgegner an Gewicht. Der politische Gegner von Lincoln, die Demokraten, machten sich diese Strömung zunutze. Ihr Kandidat McClellan hätte den Krieg so schnell wie möglich am Verhandlungstisch beendet und den Süden gewähren lassen.

Durch die jüngsten Erfolge von Sherman in Georgia und Sheridan im Shenandoah Valley konnte Lincoln die Wiederwahl doch noch gewinnen und die Kriegsgegner wurden leiser. Aber die landesweite Trauer der vielen Familien um Angehörige lähmte das gesellschaftliche Leben im Norden zunehmend. Zwar gab es immernoch Theateraufführungen und andere kulturelle Ereignisse, aber rauschende Bälle, Tanzveranstaltungen oder ausgelassene Feiern haben längst aufgehört. Jeder hoffte, dass es bald vorbei wäre. Nur fehlte vielen der rechte Glaube daran, besonders weil die Nachrichten aus Virginia seit Monaten keinen Fortschritt erkennen ließen.

 

Das Bild im Süden war naturgemäß ganz anders. Hier herrschte Mangelversorgung wohin man sah. Kulturelles Leben war schon seit Jahren wie abgestorben. Jede helfende Hand versuchte, die verbliebenen Armeen mit dem Nötigsten zu versorgen, und stellte dabei die eigenen Bedürfnisse notgedrungen hinten an.

Staatsflagge der Konföderation, gültig zwischen 1862 und Anfang 1865

Mit dem Verlust großer Teile von Georgia waren wichtige landwirtschaftliche Produktionsflächen und die Waffenindustrie von Atlanta weggefallen. Soldaten und Bevölkerung im Westen waren nun komplett auf sich selbst gestellt, da Virginia die wenigen dort verbliebenen Mittel für die eigenen Truppen brauchte. Allein dies wurde auch immer schwieriger, nachdem Sheridan das Shenandoah-Tal als wichtigste "Kornkammer" vernichtet hat.

Seit Mitte letzten Jahres bereits unterlag der Mississippi River komplett der Unions-Kontrolle. So konnte aus den gewaltigen texanischen Rinderherden auch kein Fleisch und Leder mehr nordwärts gelangen. Baumwolle wurde zwar an einigen Stellen noch produziert, doch sie verrottete in den Häfen, weil die Seeblockade jeden effektiven Handel mit Europa unterband.

Frauen plünderten ihre Schränke und trennten ihre Kleider auf, um Stoff für Uniformen oder Fahnen zu gewinnen. Sie nähten und flicken aus allem etwas zusammen was sie finden konnten.

Roheisen ist auch kaum noch zu bekommen. Und so schmolz die letzte verbliebene Waffenschmiede, die Tredegar-Werke in Richmond, alles Metall ein das sie bekommen konnte, um daraus Gewehre und Kanonen herzustellen. Wenigstens bekamen die Schmelzöfen noch genug Kohle für die Feuer, denn diese wurde im konföderierten Gebiet zwischen Richmond und Petersburg abgebaut.

Holz wurde Mangelware. Je länger der Krieg dauerte, desto mehr hatten die verschiedenen Armeen die ausgedehnten Wälder gerodet. Sie brauchten Holz zum Bau von Brücken, Wehranlagen, Wegbefestigungen, Zelten, Hütten, aber auch in gewaltigen Mengen als Feuerholz. Gerade in Virginia fanden nicht nur die Armeen oft nicht genug Holz, um sich im Winter zu erwärmen, sondern auch die Bevölkerung. Und der Winter 1864/65 war durchaus nicht gerade mild.

Pferde und Maultiere als Reit- oder Zugtiere waren das nächste Problem. Der Süden hatte keine Zuchtfarmen wie im Norden, die für reichlich Nachschub an jungen Pferden sorgten, sondern alle Tiere kamen aus Privatbesitz. Jeder Soldat musste sich selbst ein neues Pferd organisieren, wenn seines erschossen oder verendet war. Und das war zunehmend problematisch, nicht nur für die Armee, ihre Kavallerie und Gespanne, sondern auch für die Bevölkerung, da kaum noch Transportwagen fuhren, die alles Nötige in die Städte bringen konnten.

Die Straßen waren das nächste Problem. Gerade in Virginia hatten die jahrelangen Kämpfe und Armee-Bewegungen das Land gründlich umgepflügt. Kaum eine Straße und schon garkeine Brücke war mehr befahrbar. Eisenbahnen fuhren nur noch notdürftig auf Teilstrecken, die jeweils in der Hand einer der beiden Seiten waren. Alle anderen Abschnitte waren zerstört, die Schienen entweder verbogen oder abgebaut und eingeschmolzen.

Die Aufzählung ließe sich noch lange fortsetzen.

 

Aus heutiger Sicht sei der Vergleich erlaubt, dass der Süden im Winter 1864/65 in einer ähnlichen Situation war wie Deutschland im Winter 1944/45. Die Nordstaaten wären in diesem Vergleich dann die Alliierten, die materiell inzwischen stark überlegen waren und Deutschland von allen Seiten einschnürten. Wir wissen alle, dass dieser Krieg dann nur noch wenige Monate dauerte und wie er endete. Und dasselbe Ende konnte man vor 150 Jahre auch den Südstaaten voraussagen. Der Grund war in beiden Fällen der totale Zusammenbruch der unterlegenen Seite.

Es gab nur noch wenige Menschen im Süden, die an einen Sieg und die Unabhängigkeit glaubten. Einer davon war Jefferson Davis, der diesen Glauben an die Gerechtigkeit seiner Sache bis zu seinem Tod lange nach Kriegsende nicht verlieren sollte. Die großen Generäle waren dagegen nicht ganz so zuversichtlich - auf beiden Seiten. Doch sie taten ihr Bestes - getreu ihrer Ausbildung, die Befehle nicht zu hinterfragen.

 

Hier nun doch noch ein kurzer Überblick über die strategische Lage, nachdem Mitte Dezember auch dieses Jahr alle Armee-Bewegungen zum winterlichen Stillstand gekommen waren - diesmal jedoch mit Ausnahmen.

Die Nord-Virginia-Armee unter Robert E. Lee trotzte seit sechs Monaten allen Versuchen der Potomac-Armee unter George G. Meade, Richmond und Petersburg einzunehmen. Lee war inzwischen zum Oberkommandierenden der Konföderation ernannt worden, und sein Gegenspieler Ulysses S. Grant befand sich ebenfalls seit Monaten nur wenige Kilometer von ihm entfernt am Ufer des James River. Grant hatte Lee zwar immer wieder gezwungen, seine Verteidigungslinien zu verlängern und damit auszudünnen, aber den Durchbruch hatte er noch nicht erreicht.

Philip Sheridan hatte LtGen Jubal Early im Shenandoah-Tal aufgerieben und war inzwischen zurück bei Grant. Der unfähige, politisch eingesetzte Benjamin Butler war abgesetzt, sein Kommando über die James-Armee hatte jetzt Grant's Vertrauter Edward Ord.

Im Westen war der Krieg eigentlich schon vorüber. William T. Sherman's Unterführer George Thomas und John Schofield hatten Hood's Tennessee-Armee bei Nashville vernichtend geschlagen. Davis blieb nichts anderes übrig, als den von ihm so wenig geschätzten Joseph E. Johnston ein drittes Mal einzusetzen, um die Reste der Tennessee-Armee in North Carolina zu sammeln und zu versuchen, Sherman an der Vereinigung mit Grant in Virginia zu hindern.

Sherman selbst war ungestört quer durch Georgia marschiert und schickte sich an, auf dieselbe Art auch South und North Carolina zu durchziehen und nach Richmond vorzustoßen.

Und ganz weit unten im Süden war der konföderierte Edmund Kirby Smith mit seiner kleinen Trans-Mississippi-Armee von Richmond völlig abgeschnitten. Ihn erreichten weder Material, Nachschub, noch Befehle. Kämpfe gab es dort unten auch so gut wie keine mehr.

 

Im Gegensatz zu den anderen Wintern war diesmal also durchaus Bewegung vorhanden, aber nur in den von der eisigen Kälte nicht so betroffenen Carolinas. In allen anderen Gebieten wartete man wie jeden Winter auf besseres Wetter und trockene Straßen.

Oder es gab bereits nichts mehr, wofür man kämpfen konnte.